Herr Dr. Lütz, wie viele Burn-out-Erkrankungen gibt es in Deutschland?
Lütz: Genau genommen gar keine, denn Burn-out ist ein viel zu schwammiger Begriff. Es handelt sich dabei um ein Syndrom mit über 70 verschiedenen Symptomen. Darunter laufen Befindlichkeitsstörungen wie Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen, Überforderung – Dinge, die wohl jeder manchmal spürt –, aber auch schwere Krankheiten wie Depressionen. Doch weil der Begriff so unklar ist, denken viele Menschen, sie wären psychisch krank. Sie suchen einen Therapeuten auf, obwohl sie eigentlich eine Lebenskrise haben. Unter der Last dieses Ansturms ist die ambulante psychiatrische Versorgung in Deutschland quasi zusammengebrochen.
Wie erkennen Sie, ob Patienten wirklich krank sind?
Lütz: Wenn sich im Gespräch zeigt, dass jemand bisher alle Höhen und Tiefen in seinem Leben sehr gut gemeistert hat und plötzlich nicht mehr in der Lage ist, eine vergleichsweise geringe Krise zu bewältigen, kann das auf eine Erkrankung wie eine Depression hindeuten. Das lässt sich heutzutage gut mit Antidepressiva und Psychotherapie behandeln.
Es kann aber auch das Ergebnis einer Untersuchung sein, dass ich einem Patienten am Ende sage: "Sie leiden sehr und es geht ihnen richtig schlecht, aber sie sind nicht krank." Denn wenn jemand zum Beispiel nach einer unerwarteten Kündigung in eine Krise gerät, ist das eine normale Reaktion. Sie zeigt, dass derjenige emotional gesund ist. In dieser Situation hilft Psychotherapie nicht. Es wäre unseriös, sie anzubieten. Dann ist es für einen solchen Menschen wichtiger, etwas an seiner Lebenssituation zu ändern, aktiv zu sein, erfüllenden Beschäftigungen nachzugehen und Kontakte zu guten Freunden wieder aufzunehmen.
Wie kommt es, dass Arbeit überfordert?
Lütz: Viele Menschen streben unrealistische Ziele an. Das sogenannte Peter-Prinzip beschreibt das ganz gut. Es besagt, dass jemand so lange befördert wird, bis er unfähig ist. Wenn zum Beispiel ein Versicherungsvertreter mit hervorragenden Abschlüssen zur Belohnung Abteilungsleiter wird, hat er plötzlich keinen Kundenkontakt mehr und muss Leitungsfähigkeiten beweisen, die er vielleicht gar nicht besitzt. Das macht unzufrieden. Statt sich gegen Burn-out behandeln zu lassen, müsste er, um glücklich zu werden, die Konsequenz ziehen und lieber wieder als Versicherungsvertreter arbeiten.
Viele scheinen auch mit der schnellen Lebensweise nicht zurechtzukommen.
Lütz: Das Leben ist durch neue Technik und Kommunikationsmittel schneller geworden. Mancher kann sich darauf nicht so rasch einstellen und ist überfordert. Doch der Mensch verfügt über Anpassungsmechanismen, durch die er mit schwierigen Lebenssituationen auf Dauer fertig wird. Leider sind in der Vorstellung vieler Menschen die Psychotherapeuten diejenigen, die das Glück produzieren können und dabei helfen, alle Krisen des Lebens zu bewältigen. Doch das ist ein Bluff. Wir können Krankheiten behandeln, aber wir haben nicht mehr Lebenserfahrung als jeder andere.
Was kann man als Betroffener tun, wenn man merkt, ich schaffe das alles nicht mehr?
Lütz: So wie der Mensch seit Jahrtausenden auf Krisen reagiert hat: indem man Entscheidungen fällt. Nicht einfach immer weiter in demselben Trott mitlaufen, sondern stehen bleiben und Bilanz ziehen: "Der Job ist zwar besser bezahlt, aber ich bin eigentlich nicht glücklich." Oder sich bei einer Beförderung vorher überlegen, ob man den Posten wirklich will.
Wie kann man reagieren, wenn man den Eindruck hat, ein Mitarbeiter verausgabt sich völlig?
Lütz: Man muss da vorsichtig sein. Nicht jeder möchte unbedingt angesprochen werden, wenn es ihm mal nicht gut geht. Bestimmte Stimmungsschwankungen sind normal. Wenn man aber den Eindruck hat, dass jemand ständig bis abends spät sitzt und rödelt, kann man ihn freundlich darauf ansprechen. Ein lebenserfahrener Mitarbeiter kann vielleicht einem jungen Kollegen den ein oder anderen konkreten Rat aus eigener Erfahrung geben. Das kann wichtiger sein als das Gespräch mit einem Psychotherapeuten, der diesen Arbeitsplatz nicht kennt und nur allgemeine Tipps gibt.
Die Fragen stellte Apotheker Rüdiger Freund.