Die Diskussion um steigende Fallzahlen von Autismus-Diagnosen steht hoch auf der Agenda des US-amerikanischen Gesundheitsministers Robert F. Kennedy Jr. Vor allem Impfstoffe werden in seinen Kreisen als Ursache für Autismus verdächtigt. Aber auch Paracetamol wird als Ursache für Autismus ins Spiel gebracht, wenn es während der Schwangerschaft eingenommen wird. Hierzu meldete sich zuletzt der US-Präsident zu Wort.
Was in den USA im Hintergrund abläuft
Im Wissenschaftsmagazin »Nature« erschien vor Kurzem ein einordnendes News-Feature von der Wissenschaftsjournalistin Helen Pearson. Sie hatte den Beitrag noch vor der Debatte rund um Acetaminophen, ein anderer Name für Paracetamol, verfasst. Demnach hatte Kennedy im April 2025 angesichts steigender Häufigkeit von Autismus in den USA (eine Verdoppelung gegenüber 2010) von einer „Epidemie“ gesprochen und diese auf eine Umwelttoxizität zurückgeführt.
Als Konsequenz dieser Entwicklung kündigte die Gesundheitsbehörde National Institutes of Health (NIH), die Kennedy unterstellt ist, eine Initiative zu dem Thema an: Die Autism Data Science Initiative (ADSI) erhält bis zu 50 Millionen US-Dollar (43 Millionen Euro) aus öffentlichen Mitteln und soll verantwortliche Umweltursachen identifizieren.
Einseitiger Fokus auf Umweltfaktoren und Wiederbelebung der Impfstoff-Hypothese
Bei Wissenschaftlern stößt die ADSI auf erhebliche Kritik – hauptsächlich wegen der einseitigen Fokussierung auf Umweltfaktoren und der Wiederbelebung der längst widerlegten Impfstoff-Hypothese. Metaanalysen und große epidemiologische Studien haben wiederholt gezeigt, dass zwischen Impfungen und Autismus kein kausaler Zusammenhang besteht.
Warum steigt die Zahl der Autismus-Diagnosen?
Viele nicht-biologische Faktoren tragen zu mehr Diagnosen von Autismus bei:
- Die Klassifikation für psychische Erkrankungen (DSM, „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wurde mehrmals in der Vergangenheit aktualisiert. Davon hängen Diagnosen ab. In den Aktualisierungen (DSM-4) im Jahr 1994 und im Jahr 2013 (DSM-5) wurden die diagnostischen Kriterien für Autismus erweitert. Seit der Aktualisierung von 2013 zählt das Asperger-Syndrom zu den Autismus-Spektrum-Störungen.
- Diagnostische Instrumente wurden verbessert, etwa durch strukturierte Interviews und standardisierte Beobachtungsskalen
- Größere Aufklärung in Bildungs- und Gesundheitssystemen
- Frühere und breitete Diagnostik, insbesondere bei Mädchen und Erwachsenen: Bei ihnen wurde Autismus historisch vielfasch übersehen.
Die Wissenschaftsgemeinschaft kommt so zu dem Schluss, dass der Anstieg der Autismus-Diagnosen überwiegend auf diese nicht-biologischen Faktoren zurückzuführen ist.
Autismus tritt nicht häufiger auf, es wird nur häufiger erkannt
Epidemiologische Arbeiten wie eine dänische Kohortenstudie von Forschenden der Universität Aarhus aus dem Jahr 2015 schätzen: Allein Änderungen in Diagnosepraxis und Meldeverfahren erklären etwa 60 Prozent der Häufigkeitszunahme (Prävalenzanstieg). Eine aktuelle schwedische Längsschnittstudie zeigt zudem, dass das Vorkommen von Autismus-Symptomen (basierend auf elterlichen Berichten im Alter von 18 Jahren) stabil geblieben ist. Währenddessen ist die administrative Diagnosehäufigkeit stark gestiegen. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Anstieg vor allem eine verbesserte Erkennung Erfassung zurückzuführen ist: Autismus tritt also nicht häufiger auf, es wird nur häufiger erkannt.
Biologisch: Starke genetische Komponente
Trotzdem ist die Frage nach biologischen Ursachen der Erkrankung wichtig. Aktuelle Erkenntnisse weisen auf eine starke genetische Komponente hin: Eine multinationale Zwillingsstudie schätzt den genetischen Anteil am Krankheitsrisiko von Autismus auf etwa 80 Prozent. Etwa 10 bis 20 Prozent der Fälle lassen sich auf seltene, hochwirksame Mutationen zurückführen, die oft spontan in Keimzellen (de novo) entstehen. Darüber hinaus tragen Hunderte bis Tausende häufige genetische Varianten mit jeweils minimalem Effekt bei.
Umweltassoziationen mit Beleg
Umweltfaktoren spielen gegenüber der Genetik eine untergeordnete, aber nicht zu vernachlässigende Rolle. Diese haben fast ausschließlich pränatal, also vor der Geburt, einen Effekt. Zu den am besten belegten Umweltassoziationen gehören:
- höheres elterliches Alter (verbunden mit erhöhter De-novo-Mutationsrate),
- mütterliche Infektionen während der Schwangerschaft,
- Luftverschmutzung (insbesondere Ozon) sowie
- Stoffwechsel-Zustände der Mutter wie Adipositas oder Gestationsdiabetes.
Allerdings war es bei vielen dieser Assoziationen nicht möglich, die Ergebnisse mit anderen Daten zu wiederholen (Replikationskonsistenz). Das weist auf komplexe Wechselwirkungen zwischen Genen und Umwelt hin. Diese versucht die Forschungsgemeinschaft mittels einer größeren Datenbasis zu entschlüsseln: das GEARS Autism Center Excellence Network vereint Daten zu Genetik, Epigenetik, Krankheitsgeschichte und Umwelt von etwa 175.000 Menschen aus USA, Kanada und Dänemark.
Ansätze der Forschungsgemeinschaft zu Autismus
Manche Projekte, etwa AIMS-2-TRIALS, fokussieren sich mehr auf Faktoren, die bei verschiedenen Erkrankungen eine Rolle spielen, etwa bei den Autismus-Spektrum-Störungen, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) oder Migräne. Diese Kenntnisse könnten letztlich genutzt werden, um personalisierte Interventionsstrategien zu entwickeln.
Demgegenüber birgt die politische Einflussnahme durch Kennedy im Rahmen der ADSI ein Risiko: Sie könnte evidenzbasierte Forschung untergraben und Stigmatisierung zu verstärken. Das kann zum Beispiel durch diskreditierende Aussagen zur gesellschaftlichen „Nutzlosigkeit“ von Betroffenen geschehen. Wissenschaftlich fundierte Fortschritte erforderten integrative, partizipative und methodisch robuste Ansätze, nicht vereinfachende Narrative, so Pearson.
DOI: 10.1038/d41586-025-02636-1